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Kurator der Ausstellung

Marie Wolfgang eröffnet mit einem Diskurs über die Schwelle: Trau ich mich? Trau ich mich nicht?

Flucht nach vorn oder zwei Schritte zurück. Entscheidungen stehen an, stehen aus. Sie eröffnen neue Möglichkeiten oder schließen etwas ab. Die Arbeiten der Ausstellung beschreiben Annäherungen. Dazwischen, davor, dahinter: der Betrachter. Ich. Du.

Arbeiten folgender Künstler sind zu sehen: Franziska Klose, famed, Beate Höing, Heike Kati Barath, Juliane Schmidt, Oliver Schieber,  Julia Gröning, Wolfgang Flad, Tatjana Doll, Georg Quenzel


Rundgang

Text/Fotos © Denis Bury

Der Besucher betritt den Ausstellungsraum ganz unmittelbar: kein Empfangsraum, keine Titelei, kein Einführungstext, keine Beschilderung – direkte Konfrontation mit den Arbeiten.

Erster Blick: eine kleine Porzellanfigur mit geöffneten Armen und dem Besucher abgewandt, an der Kante eines brusthohen Sockels. Bereit zum Sprung? Zur Entsagung der Welt?

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Die Position provoziert zur Betrachtung der Vorderseite. Zu sehen ist der Dirigent der Affenkapelle: Meissner Porzellan, entworfen von Johann Joachim Kaendler 1753.

Eine irr dreinblickende Figur – die Augen halb zu, halb verdreht – mit weit geöffneten Armen. Hier wird der Raum geweitet, im Rausch gefeiert, Vanitas, barocke Gelüste, Hingabe, Aufgabe, alles gleichzeitig. Der Affe als Allegorie. Ein Gegenstand zwischen Dekoration und höchster Kunstfertigkeit.

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In der Schaffung des Porzellans spiegelt sich die sonnengleich gewollte Herrlichkeit August des Starken. Vergessen die Armut des Erzgebirges, dessen Bergmänner den Anspruch des Despoten auf ihrem Rücken finanzierten.

Folgen wir in den geöffneten Raum: Ein kleines bewegtes Bild gleich neben dem Kapellmeister beschäftigt unsere Augen. Ein iPhone dient als Abspielgerät, ein Kopfhörer fördert unsere Aufmerksamkeit. Mit den weichen Kissen auf den Ohren tauchen wir in eine eigene Sphäre. Unter ihnen verschwindet das uns Umgebende. Das Bild wiederholt einen längeren Abschnitt. Eine junge Blechbläsergruppe spielt „Go West“. Sehr verlangsamt. Schön arrangiert. Minuten. Minuten. Am Ende: Das Lied ist aus, keiner weiß weiter. Die Kamera, einfach frontal, läuft. Was nun? Verlegenes wie: „OK. Puh! Gut, wir haben es geschafft. Ziemlich fehlerfrei.“

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Es fehlt die Regieanweisung. Solange die Komposition ihre Vorgaben macht läuft alles nach Plan. Und dann?

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Auch der Einstieg der Aufnahme ist ähnlich. Die Künstlergruppe Famed, von der dieser Video-Loop ist, hat auch da keine Angaben gemacht, wann zu beginnen ist, wie der Anfang aussehen könnte.

Schauen wir auf einen weiteren Anfang. Beim Passieren des Eingangs streifte uns bereits rechts eine Arbeit von Juliane Schmidt. Bunte Linien an der Wand. Deckenhoch, lotrecht, fingerbreit jeder Streifen, sequenziell auf ca. einem Meter. Unten barockes Gekräusel. Die Streifen wie, ja, Luftschlangen! Aufgesprungene, fröhliche Luftschlangen.

Eröffnung! Absprung!

An der Wand, festgeklebt. Ihrer Intention beraubt, entfalten sie ihre wilde Lust um so mehr.

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Ein Minimal. Aber unten aufgelöst.

Nun aber hinüber in den großen Raum. Mit jedem Schritt auf diesen zu, in diesen hinein, wächst der blaue Himmel, wird das Holzgerüst vor diesem größer.

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Neun Meter Länge, zwei Meter zwanzig Höhe, knapp zwanzig Quadratmeter Bildfläche, gefüllt von Heike Kati Barath mit Himmel und Holz.

Wir stehen im Blau. Mit Schönwetterwolken verwobenes Blau. Und finden ineinander verwinkelte Holzbretter und Balken. Wie ein Steg.

Und wenn ich den Steg betrete, springe ich dann in herrlich kühles Sommerwasser? Oder in eine Schlucht?

Und hält mich der Steg überhaupt? Da sind weder Nägel noch Schrauben. Und die Bretter liegen auch nicht alle aufeinander. Eigentlich stimmt mit diesen gar nichts. Verschiedene Perspektiven. Unproportionen.

Auf Nachfrage trauen sich tatsächlich alle Besucher der Ausstellung auf dieses Holzgerüst. Und würden sich über einen Sprung freuen.

Na dann! Vielleicht noch einen Sprungsockel dazu? Hier stehen zwei von Wolfgang Flad. Türkis oder Orange. Unwinkelig. Stabil. Wie Steine in der Landschaft.

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Diese Objekte haben sich in Flads Arbeit verselbständigt. Für seine organischen Skulpturen, gefertigt aus Holzstäben, befestigt mit Pappmaché aus geschredderten Kunstkatalogen, sind meist Sockel notwendig.

Die Sockelfrage. Muß immer wieder neu gestellt werden. Modular, angepasst an das Ausstellungsdesign, technische Funktionalität, Unterstreichung, vornehme Zurückname zum platzierten Werk.

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Flads Sockel, in verschiedenen Farben, jeder anderswinkelig, sind vielseitig: eben auch Designobjekt, funktional, künstlerischer Ausdruck. Fragestellungen in alle Richtungen, die schön aussehen und dabei Hocker oder Sprungsockel sein können.

Daneben hat sich noch ein anderes Objekt verirrt. Alles andere als statisch. Aber auch das kann uns in verschieden Richtungen bringen: Ein Skateboard.

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Doch sein Aufbau ist wider die Erwartung. Statt federndem mit Graffiti überzogenen Holz prangt da ein grober Glotz. Ein Stück Balken. Mit gelenkigen Rädern versehen. Und in unmittelbarer Nähe zu Baraths Steg.

Mal eine Runde durch die Ausstellung drehen? Oliver Scheibler, präziser Zeichner und Erbauer des Boards, hat sicher nichts dagegen.

Wer nicht will, kann auch etwas auf den Sockeln vor dem Himmel verweilen.

Ich drehe jedenfalls eine Runde und steuere auf eine weitere Arbeit Juliane Schmidts zu. Schön passepartouriert: ein Foto einer gebändigten Zimmerpalme. Die Blätter mit einem Haargummi nach oben befestigt, eine Strähne hängt nach unten.

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So so. Hier schwingt sich die Menschheit gleich wieder zum Herren über die Natur auf. Nee, nee, gewitzt die Runde um die schmale Wand gedreht, ist da das gleiche Bild, jedoch mit geöffneter Frisur.

Puh. Erleichterung. Und mit offenem Haar fühlt sich auch der Kopf wohl. Der bekommt nämlich gleich etwas Stoff

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Gegenüber der Frisur drei Fotos von Franziska Klose. Darauf Konstruktionslatten, Plastikfolie, Baureste, dunkler Raum. Etwas Licht strahlt ein. Auf jedem der Fotos ist eine andere Anordnung zu sehen. Die Latten bilden Konstrukte wie zur Stabilisierung des Raumes, zur Abstützung der Decke.

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Nur: die Konstrukte halten nichts. Schöne Bilder von schönen Konstruktionen, die nicht funktionieren.
Halten wir kurz inne. Setzen uns. Lassen den Blick schweifen. Bücherregal, Kataloge und Künstlerhefte der beteiligten Künstler.

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Rechts davon ein dunkler Fleck in einem Gestrüpp. Ein Kind? Ein Mensch? Trockene lange Pflanzengeflechte. Darin jemand.

Hineingefallen? Liegend? Stehend? Gesprungen? Wie ist eigentlich der Winkel, die Perspektive der Fotografin? Noch ein Foto von Franziska Klose. Groß, quadratisch. Fast Monochrom. Die Person auf dem Bild von schräg oben hinten. In dem Geflecht.

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Weiter geht es zu einer Malerei von Georg Quenzel. In launischem Wetter zwischen grünen Hügeln stehen hölzerne Wohnwagen. Dazwischen aufgespannt eine Wäscheleine mit bunten Tüchern. Farben angereiht wie verbundene Flaggen. Davor ein Lagerfeuer, darum eingepackte Menschen. Fahrendes Volk.

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Georg Quenzel war Dozent an der Fachschule für angewandte Kunst in Leipzig. Vorrangig zeichnete und malte er die die Stadt umgebenden Auenlandschaften. Und mit Leidenschaft fahrendes Volk.

Menschen auf dem Sprung zum nächsten Ort. Ein Stück verweilend solange Brot und Duldung es zulassen.

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Weiter geht es links vom Bild durch eine Tür, die Treppe hinauf. Etwas schäbig ist es hier, der Aufgang in das Materiallager. Das bietet einige Kubikmeter Holz auf, weshalb uns das Brett im Treppenaufgang auch nicht weiter stört. Es bedarf schon eines Hinweises, dass es sich hierbei um eine Leinwand handelt, die mit Ölfarbe bemalt ist – auch eine Arbeit von Heike Kati Barath. Von diesem „Bretterbild“ gibt es zahlreiche weitere in unterschiedlichsten Größen. Sie dienten schon als Lattenzaun in einer Schrebergartenanlage, als Holzstapel angelehnt an die Fuhrwerkswaage in Köln oder als rückseitige Konstruktion des frei im Raum positionierten „Stegs“ im Kunstverein Coesfeld.

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Einige Stufen weiter taucht ein zweites Video von Famed auf: „That´s all Folks!“. Am Ende der Ausstellung ein knapp halbstündiger Loop, zusammengeschnitten aus den Abspann-Sequenzen der Disney-Serie „Schweinchen Dick“. Zitat famed:  „Jedes Ende ist gleichzeitig der Beginn des neuen Endes.“

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Und da das Ende immer auch Anfang ist und der Weg aus der Ausstellung wiederum nur durch diese selbst führt, birgt auch dieser Weg noch einige Überraschungen.

Die Stufen zurück in den Ausstellungsraum, vorbei an der wilden, offenen Palmenfrisur, lässt weiter hinten im Raum – also weiter vorn – Julia Gröning ihre Haare fallen. Sie hängt über einen kräftigen Baumstamm, den Oberkörper nach unten, in einem Wald.

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Meist ist sie es selbst, die sich in ihren Fotos findet. Machmal verschmilzt sie im Motiv, manchmal ist sie deutlich.

Auf dem Weg dahin zeigt sich noch eine weitere Arbeit, die wir vorher übersehen hatten. In einer Ecke, über Kopfhöhe, klebt ein Vogel. Er ist aus Porzellan und hat den Tag irgendwie nicht überlebt. Den Absprung nicht geschafft. Beate Höing hat ihn geschaffen. Dieser hier – der erste aus einer Serie von über Hundert – breitet nur noch Flügel aus, die das Licht ihm durch Schatten schenkt.

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Doch bevor unser Besuch endet und wir aus dem Ausstellungsraum hinaustreten, warnt uns noch eine kleine, derbe Leinwand von Tatjana Doll – schlicht an die Industrietür gepinnt – vor bröckelndem Felsgestein. Vor der brüchigen Mauer. Vor den Gefahren draußen.

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„Trau ich mich? Trau ich mich nicht?“ – ein Rundgang mit Denis Bury.